Wie kommt man mit 33 auf die Idee, man könnte autistisch (Asperger ist eine Form des Autismus-Spektrums) sein? Bei mir waren es viele kleine Begebenheiten, die mich verwundert zurückließen (Geräusche, die keinen sonst störten, flackerndes Licht auf der Arbeit, Missverständnisse), die Identifizierung als Introvert, schließlich Memes und Beiträge von Autismus-Seiten, die ich vollkommen nachvollziehen konnte und endlich die Idee, einen Onlinetest zu machen, um eine erste Einschätzung zu erhalten. Nun also mein erstes Buch zum Thema.
Direkt vorweg: Es gibt einige Probleme mit diesem Buch - zunächst ist das Original von 2010 und einige aufgeführte Daten definitiv veraltet. Zweitens ist die Autorin scheinbar heteronormative konservative Amerikanerin und das scheint immer mal wieder durch. Drittens betont sie immer wieder, dass Autistinnen weniger Wert auf feminine Rollenbilder legen, manche kein Vergnügen an Sex haben und sich oftmals eher männlich geben - verwendet aber nie Wörter wie nonbinär, inter oder asexuell. Das könnte bei der weiteren Identitätsfindung junger Menschen durchaus hilfreich sein. Ich hatte mir die deutsche Ausgabe gekauft in der Hoffnung, auch deutsche Anlaufstellen und Bezüge zu finden, doch das sind nur einige Links am Ende.
Dennoch ist es als erste Anlaufstelle für Frauen, die sich schon immer etwas anders und missverstanden gefühlt haben, hervorragend geeignet - allein die vielen Listen mit Symptomen, Merkmalen und Verhaltensmustern! Zudem hat Dr. Asperger, auf den die Krankheit zurück geht, seine Diagnosen nur mit männlichen Probanden erstellt - höchste Zeit also, dass auch die Damenwelt eine Stimme erhält. Spätestens nach dem Kapitel über sensorische Überlastung (Störgeräusche, Neonlicht, kratzende Kleidung) fühlte ich mich verstanden. Wusstet ihr beispielsweise, dass auch Reizdarm ein Symptom sein kann? Kein Wunder, wenn wir wegen der ständigen sensorischen Überforderung Bauchweh und Stress haben!
Jedes Kapitel ist in drei Abschnitte gegliedert: Die Erklärung, mit vielen Zitaten von Interviews mit Betroffenen, dann eine Sektion mit Tipps für Aspergirls und abschließend Hilfreiche Hinweise für Eltern von Aspergirls. Letztere sind durchweg davon geprägt, dass man den Kindern Liebe und Zuneigung vermitteln muss, damit sie sich frei entfalten können - das fand ich großartig und sehr beruhigend.
Alle Lebensstationen werden abgedeckt: Schule, Studium, Beziehungen, Kinder, Alter. Dazu kommen noch wichtige Kapitel über Sensorische Überlastung, Autostimulation, Geschlechterrollen, psychische und physische Begleiterscheinungen sowie ritualisiertes Verhalten.
~ 29.05.2022